Flipped Classroom – das umgedrehte Klassenzimmer
Die Idee hinter Flipped Classroom
Im klassischen Unterricht, so wie es sich die SchülerInnen gewohnt sind, erfolgt die Erarbeitung während der Unterrichtslektion, bzw. die Theorie wird in der Lektion erklärt und zu Hause werden dann die Aufgaben dazu gelöst, vertieft und gefestigt. Je nach Lehrperson geschieht die Wissensvermittlung häufig im Frontalunterricht. Beim Flipped Classroom – dem umgedrehten Klassenzimmer – erfolgt die Erarbeitung/Vorbereitung zu Hause, und die Aufgaben werden im Unterricht zusammen gelöst. Der Input zu Hause wird oft in der Form von einem Erklärvideo gegeben.
Vorgehen
Als Erstes habe ich meinen Schülern das Konzept von Flipped Classroom erklärt und die Vorteile herausgestrichen: kurze Vorbereitungszeit zu Hause, die Erarbeitung erfolgt im eigenen Lerntempo (Video wiederholt anschauen, pausieren), kollaboratives Bearbeiten und Lösen der Aufgaben im Unterricht.
Zudem habe ich festgestellt, dass beispielsweise in meinem Chemieunterricht die Unterrichtszeit von 45 min häufig für den “klassischen” Unterricht nicht ausreicht: Die SchülerInnen verlassen mein Klassenzimmer und gehen zusammen mit mir in den Chemieraum. Es erfolgt ein Theorieteil und dann das praktische Experimentieren: Lesen und Verstehen der Versuchsanordnung, Material aus den Schränken holen, Experiment aufbauen, durchführen, auswerten und dokumentieren. Und jetzt ist bereits schon wieder Zeit aufzuräumen. Diese Situation ist für mich und meine SchülerInnen unbefriedigend. Deshalb habe ich das Modell des umgedrehten Klassenzimmers gewählt. Meine Schüler lesen zu Hause die Versuchsanordnungen und schauen sich dazu die Theorie und die Experimente anhand von Filmen an. Sie bereiten die Lektion zu Hause vor.
Sobald die Klasse im Chemiezimmer ankam, starteten 15 von 20 SchülerInnen sofort mit dem Herrichten der Versuche. 5 standen unbeholfen herum und wussten nicht, was sie zu tun hatten. Sie hatten die Stunde nicht vorbereitet. Ihnen habe ich das Chemiebuch vorgelegt, und sie mussten sich das Wissen theoretisch mit den Büchern erarbeiten, während dem ihre Klassenkameraden voller Freude am Experimentieren waren. Eine Woche später: Alle waren vorbereitet und die Zeit im Unterricht konnte mit Experimentieren verbracht werden.
Dieses Konzept habe ich auch auf einige meiner Mathematik-Lektionen übertragen. Als Auftrag gab ich ihnen ein Lernvideo, welches ich zum Thema Gleichungslösen mit einer Variable mit Fragen gespickt habe. Mit diesen Multiplechoice- und Freitext-Fragen habe ich ihr Wissen 8 mal abgefragt. Bevor meine Klassen zu mir in die Mathematikstunde kamen, habe ich die Antworten und Daten studiert. Damit wusste ich um die Stolperstellen und was gelungen war, noch bevor die erste Person mein Klassenzimmer betrat.
Die eine Klasse konnte sogleich mit dem partnerschaftlichen Lösen der Aufgaben beginnen, mit einem Schüler und einer Schülerin habe ich Verständnisfragen geklärt. Anschliessend haben sie die Arbeit mit ihren Klassenkameraden auch aufgenommen. Bei der anderen Klasse gab es grössere Lücken und zu Beginn der Lektion musste ich lehrerzentriert die Schwierigkeiten besprechen und das Verständnis aufbauen. Anschliessend erfolgte die Bearbeitung der Aufgaben kollaborativ.
Nach 20 min intensiver und konzentrierter, partnerschaftlicher Arbeit habe ich dann eine Lernüberprüfung durchgeführt. Eine neue, noch unbekannte Gleichung, welche etwas schwieriger als die beiden in den Erklärvideos waren, musste bearbeitet werden. Von 43 Schülerinnen und Schülern haben diese 41 korrekt gelöst, und eine Schülerin hat mit leuchtenden Augen erklärt: “Sie, Herr Lutz, jetzt habe ich es endlich verstanden. Danke!”
Vor- und Nachteile von Flipped Classroom
Im normalen Unterricht gibt der Lehrer das Tempo vor. Für die einen SchülerInnen geht es zu langsam vorwärts, für die anderen zu schnell. Zudem braucht jeweils ein Teil der SchülerInnen etwas mehr Zeit für die Erarbeitung oder Wiederholungen. D.h. sie gehen aus der Lektion heraus und müssen zu Hause zuerst das Gehörte verarbeiten oder sich es nochmals beibringen; Eltern wissen wovon ich spreche ;-). Die Lehrperson verlangt dann, dass sie Aufgaben lösen, bei welchen sie auf Unterstützung angewiesen wären. Jedoch ist niemand da (ausser vielleicht der Klassenchat wo die Lösungen hinein gepostet werden). Das Lernen bleibt somit auf der Strecke.
Beim Flipped Classroom erfolgt der Input zu Hause. Er kann pausiert und wiederholt werden. Bei der Bearbeitung der Aufgaben im Unterricht sind Klassenkameraden/innen im Schulzimmer als Experten und Ansprechpersonen oder auch ich als Lehrperson anwesend und können unterstützend eingreifen. Falls sich Lernende nicht auf die Stunde vorbereiten, wird ihre Wissenslücke immer grösser, je mehr Wochen verstreichen. Zu Hause nur ein Video schauen ist zu wenig, weil damit der Wissensstand nicht überprüft werden kann. Die Daten einer Überprüfung des Wissensstands sind für mich als Lehrperson wichtig, weil ich meinen Unterricht darauf aufbauen möchte. Deshalb verwende ich Video-Tools, welche ich mit meinen digitalen formativen Lernkontrollen kombinieren kann. Auch habe ich einen digitalen Ort festgelegt, wo meine SchülerInnen Fragen und Nicht-Verstandenes platzieren können. Diese Dinge dienen mir als Lektionseinstieg und helfen mir, Einsicht in das Lernen meiner Schüler zu haben. Introvertierte Schülerinnen und Schüler geniessen diese Arbeitsweise, weil sie sich in einer Umgebung ohne sozialen Druck die Inhalte konzentriert aneignen und damit produktiver am Unterricht teilnehmen können.
Gastbeitrag von Michael Lutz, @LutzEducation
Bildquelle: Aditya Chinchure von Unsplash
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Link zum Beitrag auf LutzEducation: Siehe Link
8 Tipps von Nate Ridgway für den Erfolg mit Flipped Classroom: Siehe Link
Präsentation zu Flipped Classrom: Siehe Link
Seite von Michael Lutz: Siehe Link